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Ein Jahr Arbeit für den gesundheitlichen Verbraucherschutz - das BgVV zieht Bilanz

12/1995, 07.09.1995

"Zum ersten Mal seit 22 Jahren werden wieder alle Aspekte der Lebensmittelwissenschaft gebündelt in einem Institut bearbeitet - für den gesundheitlichen Verbraucherschutz eine wichtige Entscheidung". Nach 14 Monaten Arbeit zieht Prof. Dr. Dr. h.c. Arpad Somogyi eine erste, positive Bilanz. Mit Sorge erfüllt ihn jedoch, daß die Vielzahl neuer und die kontinuierliche Ausweitung alter Aufgaben das junge Institut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, kurz BgVV, bei gleichzeitig verringerter personeller Ausstattung im wissenschaftlichen Bereich vor erhebliche Probleme stellen. Gearbeitet wird deshalb in einigen Bereichen bereits nach Prioritätenliste und selbst das erfordert Krisenmanagement. "Auf Dauer", so Prof. Somogyi, "wird es schwer werden, den gesundheitlichen Verbraucherschutz unter diesen Bedingungen auf dem erreichten Niveau zu halten".

Die Arbeit des BgVV orientiert sich am vorbeugenden Gesundheitsschutz. Das Institut warnt die Bevölkerung, wenn Risiken bekannt werden, wie etwa im Fall der Lampenöle, die immer wieder zu Vergiftungen bei Kindern führen, oder empfiehlt bestimmte Vorsichtsmaßnahmen. Ein Beispiel ist die Anfang des Jahres ausgesprochene Empfehlung, Roh- und Vorzugsmilch nur abgekocht zu trinken und Fleischprodukte durchzugaren, um einer Infektion mit sogenannten EHEC-Bakterien (enterohämorrhagischen Escherichia coli) vorzubeugen. Gegen diese Empfehlung hagelte es Proteste aus Erzeuger- und Verbraucherkreisen, mit dem Hinweis, es fehle an Beweisen für das Vorkommen der Keime insbesondere in Vorzugsmilch. Nach Ansicht des Instituts muß eine Verbraucherempfehlung oder -warnung aber bereits dann erfolgen, wenn eine Gefahrenquelle nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann, von ihr aber ein erhebliches gesundheitliches Risiko ausgehen könnte. Einzelinteressen müssen dahinter zurückstehen, unabhängig davon, ob sie aus Hersteller- oder aus Verbraucherkreisen kommen.

In diesem Sinn hat das BgVV seine Forderungen hinsichtlich der Verbrauchersicherheit im Umgang mit Schädlingsbekämpfungsmitteln erneut nachdrücklich formuliert.

Erfreuliche Fortschritte sind in anderen Bereichen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes zu verzeichnen: So ist z.B. die Belastung von Muttermilch mit Polychlorierten Dibenzodioxinen und -furanen in den letzten Jahren deutlich (um 30 bis 50 %) zurückgegangen. Ein abnehmender Trend ist auch bei der Belastung mit Polychlorierten Biphenylen (PCB) zu verzeichnen. Das zeigt eine Studie, für die am BgVV repräsentative und international vergleichbare Daten anhand der Untersuchung von 500 Frauenmilchproben aus den neuen Bundesländern erhoben wurden.

Ein Großteil der Arbeit des BgVV basiert auf dem Vollzug von Gesetzen: Zu den Aufgaben, die dem Institut seit seiner Errichtung im Juli 1994 neu übertragen wurden, gehört die Umsetzung der EU-Richtlinie über das Inverkehrbringen "alter Stoffe" in Pflanzenschutzmitteln, die auf eine einheitliche Bewertung zielt. Da die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln Risiken für Mensch, Tier und Umwelt in sich birgt, unterliegen sie einer Zulassungspflicht. Zugelassen werden sollen künftig nur noch solche Mittel, deren Wirkstoffe in einer gemeinschaftlich festgelegten (Positiv-)Liste enthalten sind. Sogenannte "Altstoffe" müssen aufgearbeitet werden. In Zahlen bedeutet dies für das BgVV: Mitarbeit bei der Neubewertung von rund 750 Wirkstoffen für die "Positiv-Liste" und bei der Überprüfung aller in der EG bereits festgesetzten und noch festzusetzenden Höchstmengen. 1994 wurden vom BgVV 165 Pflanzenschutzmittel beurteilt, in 47 Fällen betraf dies Erstzulassungen. In 1240 Fällen lieferten Hersteller Unterlagen zu bereits zugelassenen oder in der Zulassung befindlichen Pflanzenschutzmitteln nach. Sie betreffen u.a. Fragen zur Toxikologie, zum Rückstandsverhalten und zum Verhalten der Mittel im Boden und müssen in jedem Einzelfall geprüft und bewertet werden.

Zu den neuen Aufgaben des Instituts zählt auch die erneute Bewertung der als "Altstoffe" bezeichneten Chemikalien im europäischen Rahmen; 1994 wurden 35 Altchemikalien bearbeitet. Daneben wurden 218 neue Stoffe hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Risiken bewertet. Als wichtige Maßnahme für den gesundheitlichen Verbraucherschutz ist die Herausgabe der Loseblattsammlung "Chemikalien und Kontaktallergien - Eine bewertende Zusammenstellung" zu sehen, in der zunächst rund 100 Altstoffe auf ihre kontaktallergene Wirkung hin bewertet und eingeteilt wurden. Die Liste soll nach und nach bis auf ca. 1.000 Stoffe erweitert werden. Für Chemikalien, die heute neu auf den Markt gelangen, muß die Bewertung des "sensibilisierenden" Potentials bereits im Rahmen der Anmeldung erfolgen.

Neu eingerichtet wurde die Anmeldestelle für diätetische Lebensmittel am BgVV. Hier wird geprüft, ob das Produkt die Definition eines diätetischen Lebensmittels erfüllt und auch darüber hinaus den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Nur bei positiver Beurteilung ist es rechtmäßig auf dem Markt. 1994 wurden 60 diätetische Lebensmittel angemeldet; zwei wurden abgelehnt. Die Zulassung von Lebensmitteln, die mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt wurden, ist noch Zukunftsmusik, wird aber bald arbeitsaufwendige Realität sein. Dem Thema "Novel Food" haben wir deshalb im Rahmen der Pressekonferenz einen eigenen Beitrag gewidmet.

Erheblich ausgeweitet haben sich die Aufgaben der zentralen Erfassungs- und Bewertungsstelle für Umweltchemikalien, ZEBS. Sie ermittelt im Rahmen eines bundesweiten Monitoringprogramms gemeinsam mit den Bundesländern die Belastungssituation von Lebensmitteln mit chemischen Rückständen und Kontaminanten. Die Daten dienen sowohl den Überwachungsbehörden der Länder als auch den Einrichtungen des Bundes als Grundlage für ihre Arbeit. In dieser Fachgruppe treten die massiven Engpässe in der personellen Ausstattung des BgVV besonders deutlich zu Tage. ZEBS könnte die erste Arbeitseinheit des Institutes werden,
die ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen kann.

Deutlich zugenommen haben auch die Arbeiten im Rahmen der EU-weit geltenden Höchstmengenfestsetzung für Rückstände von Tierarzneimitteln. Die Zahl der Anträge übersteigt die personellen Kapazitäten derzeit bei weitem. Eine durchweg positive Bilanz kann das BgVV im Bereich der Tierarzneimittelzulassung ziehen, die erstmals vollständig in eigener Regie arbeitet. Seit Errichtung des BgVV sind 76 Anträge auf Zulassung eingegangen; 45 wurden positiv beschieden, 31 abgelehnt. 11 Anträge wurden von den Herstellern zurückzogen. Völlig abgebaut werden konnte der Stau bei der Verlängerung von Zulassungen; hier wurden 200 Anträge beschieden. Von 200 anhängigen Widerspruchsverfahren konnten bereits 57 abgeschlossen werden.

Die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch, ZEBET, hat sich 1994 an der Entwicklung von zwei in-vitro-Tests mit "künstlicher menschlicher Haut" beteiligt, an der nach erfolgreicher europaweiter Validierung, die 1995/96 erfolgt, ätzende und reizende sowie phototoxische Wirkungen überprüft werden sollen. Die Methoden sollen dazu beitragen, im Rahmen der Entwicklung von Kosmetika längerfristig auf sicherheitstoxikologische Prüfungen im Tierversuch zu verzichten.

Die genannten Themen vermitteln stellvertretend nur einen unvollständigen Eindruck von den Aufgaben des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, die den Bereich der Lebensmittel- und Bedarfsgegenstände, der Kosmetika, Tierarzneimittel, Futterzusatzstoffe, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel sowie der Chemikalien betreffen. Das Institut befaßt sich darüber hinaus mit Problemen, die aus den engen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Tier resultieren und schließlich mit Fragen der Gesunderhaltung und des Wohlbefindens der Tiere. Ein Großteil der Arbeit wird inzwischen im europäischen Rahmen geleistet. Details sind dem Jahresbericht zu entnehmen.

Neben den Einrichtungen in Berlin-Dahlem und Marienfelde verfügt das BgVV über Außenstellen in Jena, Dessau und Wernigerode. Es umfaßt acht Fachbereiche, die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET), die Zentrale Erfassungs- und Bewertungsstelle für Umweltchemikalien (ZEBS) und eine Zentrale Verwaltung.

Ende 1994 beschäftigte das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin 928 Mitarbeiter, von denen rund ein Drittel Wissenschaftler sind. Der Anteil der weiblichen Mitarbeiter liegt bei knapp 60 Prozent.

Die Zahl der Forschungsvorhaben des BgVV belief sich 1994 auf 30, die Summe der eingeworbenen Forschungsmittel lag bei 4,2 Millionen DM. Damit kann der tatsächliche Forschungsbedarf bei weitem nicht gedeckt werden. Insbesondere kurzfristige Forschung zur Abklärung aktueller Fragen ist mit den beschränkten Mitteln nur sehr schwer zu realisieren.

Als wichtige Herausforderung für die Zukunft benennt Prof. Somogyi die Zulassung für Lebensmittel, die mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellt wurden. Die gesundheitliche Bewertung und die Entwicklung von Nachweisverfahren stellen das BgVV vor eine neue Aufgabe und haben eine herausragende Bedeutung für den gesundheitlichen Verbraucherschutz.

Daneben wird es zu den wesentlichen Aufgaben des Bundesinstituts gehören, das hohe deutsche Niveau im gesundheitlichen Verbraucherschutz innerhalb der europäischen Union zu vertreten und nicht - wie vielfach befürchtet - einen kleinsten gemeinsamen Nenner anzustreben. Das ist nicht immer einfach, da die wissenschaftlichen Argumente im Streitfall vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben müssen. Die Probleme, vor denen das BgVV bei seinen gesundheitlichen Bewertungen immer wieder steht, liegen insbesondere in der Grauzone zwischen "zwingenden Gründen des Gesundheitsschutzes", die es erlauben einem Produkt den Marktzugang zu verweigern, und der "ernährungsphysiologischen Bedeutung" eines Lebensmittels, kurzgesagt, seinem Nutzen für den Verbraucher. Es ist damit zu rechnen, daß zunehmend Produkte auf den Markt gelangen, die gesundheitlich zwar unbedenklich sind, deren ernährungsphysiologischer Wert aber zumindest fraglich ist. Da sie weder einer Zulassung noch einer Anmeldepflicht unterliegen, wird die Eigenverantwortung des Verbrauchers bei der Entscheidung für oder gegen den Kauf eines solchen Produktes in Zukunft mehr denn je gefordert sein. Die sogenannten Nahrungsergänzungsmittel sind hierfür ein anschauliches Beispiel.

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